28. Juli 2015

Giresse ist auf der anderen Seite!

Nach zwei Wochen im Wald von Beljounech gelang Giresse letzten Donnerstag die Flucht nach Ceuta. In einem Zodiac, einem kleinen Schlauchboot, umschiffte er zusammen mit 14 weiteren Flüchtlingen die Grenze der spanischen Enklave. Der junge Schriftsteller aus dem Kongo beendete „Am Fusse der Festung“ mit seinem Gedicht über die Hoffnung. Und hat es nun als erster Protagonist des Buches und einziger seiner Familie eine Etappe weiter geschafft. Zu diesem Anlass veröffentliche ich hier die gesamte Erzählung seiner Flucht, welche aus Platzgründen im Buch weggekürzt wurde.
Giresse hofft nun, in einigen Monaten auf das Festland gebracht zu werden, wo er sich wie alle anderen Angekommenen als Illegaler in Europa durchschlagen wird. In Spanien Asyl zu beantragen ist nämlich auch für ihn keine Option (ein ausführlicher Artikel dazu erschien kürzlich in der Zeit).





Giresse 
Geboren 1990 in Kongo Kinshasa 


Ich schrieb ein Gedicht mit dem Titel Der verrückte Planet Erde ist eigentlich nicht verrückt. Es ist ein Gedicht der Hoffnung, welches den Menschen zeigt, dass mit den Schwierigkeiten, die im Leben auf uns zukommen, auch die Hoffnung einher geht. Denn beim Anblick dieser Welt gibt es überall Leute, welche die Hoffnung verloren haben, auch in den entwickelten Ländern. Oft fragen wir uns: Was haben wir getan, um dies zu verdienen? Und viele verzweifeln an dieser Frage. Das Gedicht ist die Geschichte eines Mannes, der sich eines Tages entscheidet, diesen Planeten zu verlassen, um zu einem anderen Planeten zu reisen. Es ist meine Geschichte. Zuerst sah ich in meinem Land die Gewalt und musste fliehen, unterwegs erlebte ich die Entbehrung und dann hier in Marokko bin ich der Diskriminierung, rassistischen Äußerungen und Überfällen ausgesetzt. All das hat mein Herz traurig gemacht. Also sage ich mir: Ich muss diesen Planeten verlassen. Ich will zum Planeten Mars. Denn die Leute wollten schon immer zum Mars gehen. Der Mars ist das Ziel. Also will ich auch zum Mars, um zu sehen, wie es dort ist und ob ich dort einen Platz zum leben habe. So gehe ich los. Ich gehe und gehe und gehe, bis ich einen Wegweiser sehe, auf dem in großen Lettern geschrieben steht: MARS. Ich gehe näher und da erkenne ich unterhalb in roter Schrift: Zutritt nur für Roboter. Wie ich das sehe, verliere ich sämtliche Hoffnung. Ich sage mir: Ich floh von der Erde, um zum Mars zu gelangen. Und jetzt dreht mir auch der Mars den Rücken zu! Ich bin verzweifelt und weiß nicht, was ich tun soll. Denn zurückzukehren, wo ich her kam, bedeutet den Tod. Und auf den Mars zu gehen bedeutet den Tod. Also sitze ich da und wartete auf den Tod. Da höre ich auf einmal eine Stimme rufen: Komm mein Bruder, komm! Ich schaue mich um und sehe niemanden. Aber die Stimme fährt fort: Schau, im Herzen der Verzweiflung wird die Hoffnung geboren. Die Stimme fängt an mich zu trösten und ich sage mir ja, sie hat recht. Und da erkenne ich von weitem die Person hinter der Stimme. Sie ist nicht schwarz, nicht weiß, weder Frau noch Mann, es ist nur eine Person. Sie steht auf einem großen Schiff und sagt, mein Bruder, ich habe dich lange gesucht, um mich mit dir zu versöhnen. Diese Person ist der Vertreter des Planeten Erde, der mir gefolgt ist, um mich um Entschuldigung zu bitten. Sie gibt mir Hoffnung. Und wie ich ihr zuhöre, denke ich mir, nein, die Erde ist nicht verrückt, aber wir, die Menschen, wir machen sie verrückt. Also besteige ich das große Schiff und komme zurück auf die Erde. Das ist die Handlung des Gedichtes.

Ich schreibe seit ich 15 Jahre alt bin. Ich habe 27 lange Gedichte und einen Roman, den ich gerne veröffentlichen möchte. Aber dazu fehlen mir die Mittel. Ich bin ein Flüchtling, ich habe mein Land verlassen. Hier suchst du Arbeit, aber die Arbeit zeigt sich nicht. Dabei haben wir Ambitionen, wir haben Ideen, wir haben studiert, wir sind inspiriert, wir haben die Liebe zum Schreiben. Wir würden gerne Poeten oder Schriftsteller sein, aber es fehlen die Mittel. So werden meine Ambitionen zurückgesteckt. Im Kongo hätte ich jetzt mein Staatsexamen, meinen Master. Aber hier in Marokko ist es nicht wie in anderen Ländern. Du wirst schlecht behandelt, weil deine Haut schwarz ist.

 Ich verließ Kongo 2009. Das hier ist meine Geschichte. Wir erlebten familiäre Gewalt, welche uns gezwungen hat, das Land zu verlassen. Davor gingen wir zur Schule, ich studierte Kinematographie, Papa war hier, Mamma war hier und der Familie ging es sehr gut. Mein Vater war Bäcker, er hatte eine große Bäckerei mit zweiunddreißig Angestellten und verdiente viel Geld. Er lernte das Konditorhandwerk in Dänemark, wo er drei Jahre lang lebte. Ursprünglich war er Elektroingenieur, aber um in einem Unternehmen angestellt zu werden, musste man einer der okkulten Logen angehören. Denn die Firmen sind verteufelt: Wo immer du hin willst, musst du den Rosenkreuzern, Freimaurern, Illuminaten, Courte-Joie, Bleu-Ciel oder einer anderen Loge angehören. Diese Logen kontrollieren so gut wie alles, ich würde sagen auf der ganzen Welt. Unser Vater wollte sich dem nicht unterwerfen und deshalb gründete er seine Bäckerei. Die Art, wie er sein Gebäck machte, war außergewöhnlich. Er hatte unzählige Kunden. Er schickte uns Kinder auf eine erstklassige Schule. Und wenn die Kinder der Reichen ihre Geburtstage feierten, bestellten sie bei meinem Vater zum Beispiel eine Torte in der Form einer Person, mit dem aufgeklebten Foto des Geburtstagskindes.

Aber die Brüder meines Vaters waren derart eifersüchtig, dass sie sich verschworen, um ihn zu vergiften. Es war am 2. Januar 2009. Mein Vater und mein ältester Bruder gingen zum Fest meines Onkels, der seine Tochter verheiratete. Und man gab ihnen vergifteten Wein. Mein Bruder trank keinen Wein, aber mein Vater trank davon, und sie kamen zurück. Normalerweise, wenn wir essen, sitzen wir alle um den Tisch, meine Mutter bringt das Essen und jeder beginnt sich zu bedienen. An jenem Abend brachte also meine Mutter das Essen und jeder nahm einen Teller, um sich zu bedienen. Als mein Vater den Löffel nahm um zu essen, musste er kräftig Husten und aus seinem Mund kam Blut. Wir erschraken und gingen zu ihm um zu fragen, was er hat. Man hat mich vergiftet. – Woher weißt du, dass man dich vergiftet hat? – Ja, man hat mich vergiftet. Meine Brüder wollen mich töten. – Eh, was sagst du da vor deinen Kindern. – Ja, meine Brüder haben mich vergiftet. Heute habe ich seit der Arbeit nichts gegessen. Ich habe nur den Wein getrunken, den mir mein Bruder gegeben hat. Wir hatten Panik und brachten ihn ins Krankenhaus, wo ihn die Ärzte behandelten. Aber zwei Tage später war er tot. Das tat sehr weh. Normalerweise mag ich diese Geschichte nicht erzählen, denn sie hat meine Zukunft verdorben. Sie hat meine Ambitionen, meine Träume und Projekte in Nichts aufgelöst.

Nach dem Tod meines Vaters führten die Ärzte eine Autopsie durch und kamen zum Ergebnis, dass er vergiftet wurde. Wir brachten ihn in eine Leichenhalle, wir legten ihn in einen Sarg, die Leute weinten und nach drei Tagen ließen wir ihn auf unserem Grundstück beerdigen. Nach unserem Brauch kommt nach der Beerdigung die Familie zusammen damit jene, welche den Verstorbenen begleitet hatten, berichten können, wie es zum Tod kam. Wir waren also zusammen mit dem Mörder unseres Vaters. Da dieser Onkel der Älteste von allen war, ergriff er das Wort und sagte: Carl, das ist der Name meines Vaters, Carl ist gestorben. Er hinterlässt seine Frau mit sieben Kindern, zwei Parzellen und eine Bäckerei. Die Parzelle, auf der er mit seiner Frau und seinen Kindern lebte, wird geräumt und Carls Brüdern übergeben. Carl ist gestorben und wir, seine Brüder, müssen die Verantwortung für die Bäckerei übernehmen, die er hinterlassen hat. 30 Prozent der Erträge der Bäckerei sollen an seine Frau und seine Kinder gehen, 50 Prozent an die Familie und 20 Prozent an die Angestellten.

Wir starrten ihn nur so an und uns kamen die Tränen. Er verlangte also, dass wir unser Zuhause verlassen und auf die andere Parzelle ziehen, welche etwa 200 Kilometer außerhalb der Stadt lag. Erst stieß er uns das Messer in den Rücken, indem er unseren Vater vergiftete. Und dann hatte er auch noch die Kühnheit, bei der Beerdigung aufzustehen und eine solche Ansprache zu halten, welche den Hinterbliebenen ins Herz sticht. Wir entschieden also, Unruhe zu stiften. Mein ältester Bruder stand auf, ich stand auf, alle standen auf und die Kämpfe haben angefangen. In einem Moment hielt der Onkel meinen Bruder fest, und ich hatte Angst, dass er ihn töten könnte. Also wollte ich ihn befreien. Ich nahm einen Stampfer, mit dem meine Mutter die Maniokblätter zerstampfte, und schlug damit auf den Onkel. Aber als ich zuschlug, drehte der seinen Kopf, und ich traf ihn an der Stirn. Er fiel hin und begann stark zu bluten. Da kam sein Sohn mit einem großen Stein, den er auf meinen Bruder werfen wollte. Und im Reflex schleuderte ich ihm den Stampfer entgegen. Ich traf ihn am Kopf und er fiel ebenfalls zu Boden. Es war ein Tumult und die Leute konnten sie nicht rasch genug ins Krankenhaus bringen, so dass sie an Hirnblutungen starben. Das löste eine Panik aus und man hatte die Polizei alarmiert. Da nahm uns meine Mutter und wir verließen den Ort, um zu fliehen. Denn nach unserem Gesetz kommt jeder, der Totschlag begeht, lebenslänglich ins Gefängnis. Das wäre also für mich der Fall gewesen. Deshalb sind wir geflohen. Ich weiß bis heute nicht, wo mein ältester und mein jüngster Bruder geblieben sind. Denn wir waren zerstreut und hatten keine Zeit mehr, um alle zu suchen. Wir waren sieben: meine Mutter, meine Zwillingsschwester, mein kleiner Bruder, meine kleine Schwester, meine Tante und deren kleines Kind.

Meine Mutter war Händlerin und bei uns haben die Mamas die Gewohnheit, ihr ganzes Geld um den Bauch zu tragen. Dieses Geld erlaubte uns, zu reisen. Wir überquerten den Fluss Kongo nach Brazzaville und nahmen weiter im Norden ein Schiff nach Kamerun. Aber in Kamerun gab es noch immer viele Kongolesen, weshalb wir uns unsicher fühlten. Wir hatten Angst, sie würden uns erkennen und die Polizei oder die Botschaft benachrichtigen. Das hat uns dazu veranlasst, weiter bis nach Benin zu reisen. Dort schliefen wir eines Nachts in einem Hotel und im Zimmer nebenan waren kongolesische Händlerinnen. Weil die Mauern sehr dünn waren, konnten wir alles hören, worüber sie redeten: Unsere Geschichte! Diese wurde also bereits in Benin herumerzählt. So erfuhren wir auch, dass unser Haus inzwischen niedergerissen wurde. Die Leute redeten darüber, weil unsere Bäckerei in der ganzen Stadt bekannt war.

Wir fühlten uns also noch immer nicht sicher und reisten deshalb mit einem Bus weiter nach Bamako. Dort hatten wir kein Geld mehr. Alles, was meine Mutter bei sich trug, war aufgebraucht. Wir hatten überhaupt nichts mehr. Wir gingen zuerst bei verschiedenen NGOs vorbei, aber diese konnten uns nicht helfen. Dann gingen wir zu der katholischen Kirche, wo man uns aufgenommen hat. Sie suchten für uns eine Wohnung, bezahlten jeden Monat die Miete und gaben uns zu Essen. Acht Monate lang bezahlte der Priester der Kirche die Miete und gab uns zu Essen, bis er zurück nach Italien ging. Danach war es eine Katastrophe. Denn niemand konnte an seiner Stelle dieses Geld bezahlen. Der Vermieter ließ uns vier Monate lang gewähren, jeden Monat baten wir ihn um Geduld. Tagsüber gingen wir alle auf die Straße betteln damit wir etwas zu Essen hatten. Aber nach vier Monaten wurden wir rausgeworfen und suchten Hilfe bei einer Kimbanguistenkirche (1). Dort sagten sie uns, sie könnten uns nicht aufnehmen, aber sie gaben uns etwas Geld und sagten, wir sollen uns damit durchschlagen. Wir trafen auch einen afrikanischen Bruder aus Kamerun, der uns sagte: Schaut, hier in Mali leidet ihr zu viel. Geht besser nach Algerien. Dort werdet ihr Arbeit finden und gut leben. Also nahmen wir das Geld, welches uns die Kirche gegeben hat, und verkauften all unser Habe, welches wir in dem Jahr über Spenden von der katholischen Kirche angesammelt hatten. Dann zogen wir los.

Der Kameruner zeigte uns den Weg und gab uns die nötigen Kontakte. Wir gingen nach Mopti, Gao und Timbuktu, durch das Gebiet, welches von den Rebellen kontrolliert wurde. Als wir los gingen, gab es bereits gewisse Unruhen, und als wir in Mopti waren, führte Amadou Sanogo einen Putsch gegen den Präsidenten. Von Bamako nach Mopti reisten wir mit einem normalen Bus. Dort gingen wir zu einem Mann, dessen Kontakt uns der Kameruner gegeben hatte. Dieser schickte uns in einem sehr schönen, sauberen Auto mit schwarz getönten Scheiben nach Gao. Wir waren auf dieser Reise quasi die Familie des Fahrers, seine Frau und seine Kinder. Der Fahrer hatte einen Bart, der ihm bis unter die Brust reichte. Aber auf der Reise von Mopti nach Gao hatte er seinen Bart eingerollt, um nicht die Aufmerksamkeit der Polizisten und Soldaten zu erwecken. Als wir in Gao ankamen, musste er seinen Bart ausrollen, denn dieses Gebiet war bereits von den bärtigen Rebellen kontrolliert.

Er ließ uns dort bei Leuten mit einem Pickup. Es war ein Schmugglernetzwerk der Rebellen, welches Drogen nach Algerien schmuggelte (2). Und später habe ich verstanden, dass er auch die Drogen in demselben Auto von Mopti nach Gao transportierte, welche nun nach Algerien gebracht werden sollten. Er hatte uns also als Deckung mitgenommen, als wären wir seine Familie, um vor der Polizei nicht aufzufallen. So verhielt es sich auch mit dem Pickup. Denn sie nahmen uns für sehr wenig Geld mit. Sie brauchten uns, damit niemand denkt, sie würden Drogen transportieren. So passierten wir jede Polizeisperre und jede Grenze ohne Probleme.

Wir fuhren also mit dem Pickup von Gao nach Timbuktu, dort verbrachten wir zwei Tage und als wir weitergingen sagten sie: Schaut, wir haben hier Waffen dabei, wir transportieren Drogen. Also müsst ihr den Mund halten und keine Angst haben, wenn wir auf Soldaten treffen. Ihr sagt, ihr seid Malier und geht nach Bordj, um Waren zu kaufen, welche ihr in Bamako verkaufen wollt. Also lernten sie uns auch ein paar Worte in Bambara, Guten Tag zum Beispiel heißt Anisokoma. Denn das ganze Gebiet war zwar von den Rebellen kontrolliert, aber es gab zwei Lager von Rebellen: die bärtigen Dschihadisten und die MNLA (3). Und die Dschihadisten hatten Angst, dass die MNLA-Rebellen ihnen die Ware abnehmen könnten. Sie luden zuerst die Drogen auf den Pickup. Dazu hatten sie flache Kisten aus leichten Brettern, welche etwa eineinhalb Meter lang und breit und fünf Zentimeter hoch waren. Darin verstauten sie lange weiße Säcke in der Form von Schläuchen. Auf der Fahrt sind die Schläuche zum Teil aufgerissen und wir sahen ein weißes Pulver. Manchmal war das Pulver auch schwarz. Über die Kisten legten sie etliche Planen, danach das Gepäck der Passagiere und schließlich setzten wir uns darauf.

So verließen wir Timbuktu und begannen die Reise. Wir fuhren, fuhren, fuhren und fuhren. Irgendwann gerieten wir in einen sehr, sehr heftigen Sandsturm. Das ganze dauerte etwa eine Dreiviertelstunde lang. Seit ich auf der Welt bin, hatte ich noch nie einen solchen Wind erlebt. Es war ein Wind, den du dir nicht vorstellen kannst. Es war stockdunkel, aber es war nicht Nacht. Wir waren mitten in einer Sandwelt. Ich weiß nicht, wie ich das beschreiben kann. Wir saßen einfach auf dem Pickup und beteten. Nach 45 Minuten ließ der Wind nach, es war für einen Moment ganz still, und dann folgte ein sehr heftiger Regen. Ein derart heftiger Regen, dass du dir das nicht vorstellen kannst. Es hat geregnet, geregnet, geregnet und wir saßen noch immer draußen auf dem Pickup. Wir waren komplett durchnässt.

Sonst verlief unsere Reise ruhig, weil wir von den Rebellen geführt wurden. Sie sagten: Die Wölfe fressen sich nicht gegenseitig. Wir passierten problemlos eine Militärsperre und kamen in ein kleines Dorf, etwa drei Kilometer vor Bordj entfernt. Der Chauffeur ließ uns aussteigen und gab uns ein kleines Haus, in dem wir unterkamen. Er sagte, wir könnten hier bleiben bis wir bereit seien, weiter nach Algerien zu reisen. Wir verbrachten dort eineinhalb Jahre.

In diesem Dorf regiert der Handel. Vor allem der Handel mit Alkohol und Drogen. Jeden Tag kamen über zehn Pickups vorbei, welche Drogen schmuggelten. Die malischen Schmuggler brachten die Ware bis hier her und sobald sie ankamen, begannen sie aus Freude in die Luft zu schießen, weil sie gerade viel Geld verdienen würden. Dann kamen algerische Fahrzeuge, luden die Ware in ihre Autos, übergaben ein Köfferchen, die Malier öffneten es, kontrollierten das Geld und die anderen fuhren weg. Ohne etwas zu sagen. Außer Assalaamualeikum. Es ist ein Netzwerk, in welches auch die Militärs an der Grenze einbezogen sind. Denn es gab viele Fahrzeuge, welche direkt aus Bordj kamen, die Drogen abholten und wieder über die Grenze fuhren. Nach meinen Analysen waren dies keine gewöhnlichen Personen, sondern hohe Geschäftsmänner und wahrscheinlich Offiziere der Algerischen Armee. Denn sie kamen und gingen problemlos über die Grenze, während wir sie nicht passieren konnten, weil wir keine Pässe hatten.

Wir blieben sehr lange in diesem Dorf. Alle Leute kannten uns als die Familie dieses einen Schmugglers. Ich weiß nicht, warum er uns dort behielt. Aber da er uns geholfen hat, sind wir geblieben. Er kam alle paar Wochen vorbei, und brachte uns Geld und etwas zu Essen. Wenn er kam, gab er uns zum Beispiel vierhundert Euro. Für uns war das sehr viel, aber für ihn war das nichts. Denn er verdiente Unmengen von Geld mit dem Schmuggel. Und da er unsere Geschichte kannte, half er uns. Ich würde sagen: Wir sind zu Blinden geworden, geführt von einem Sehenden. Wir hatten keine Ahnung, wo wir waren. Wir hatten kein Geld für die Weiterreise. Und wir wussten ohnehin nicht, wohin wir gingen. Wo immer wir hinkamen, würden wir bleiben, sofern wir in Frieden leben können. Wir hätten auch in diesem Dorf bleiben können.

Aber eines Nachts, als wir im Haus schliefen, klopfte jemand kräftig an die Tür. Wir wussten nicht, wer es war, und wenn jemand so klopft, öffnen wir für gewöhnlich nicht. Es klopfte erneut kräftig, aber als wir etwas später aufmachten, war niemand da. Und am nächsten Morgen, als meine Tante wie üblich betteln ging, wurde sie von algerischen Soldaten festgenommen und vergewaltigt. Es war alles wirklich sehr trostlos. Wir brachten sie in ein Krankenhaus, denn sie war verletzt. Und etwa drei Monate später wussten wir, dass sie schwanger war. Wir waren noch immer dort und weinten die ganze Zeit. Warum? Was haben wir getan, um so etwas zu verdienen? Wir kamen aus einer respektierten Gemeinschaft, unser Vater hatte einen Namen, unsere Bäckerei war berühmt. Wir gingen in die gleichen Schulen wie die Kinder der Elite unseres Landes, wir studierten zusammen mit den Kindern der Generäle und Minister. Wir konnten uns nie im Geringsten vorstellen, uns eines Tages in einer solchen Situation wiederzufinden. Es war katastrophal. Erst der Tod unseres Vaters, dann das tragische Verschwinden meiner beiden Brüder und schließlich die Misere dieser Flucht. Wir stellten uns alle möglichen Fragen. Was haben wir dem Leben angetan? Aber niemand konnte uns antworten. Wir weinten und weinen noch heute. Wenn auch meine Erscheinung nicht weint, so weint mein Herz dauerhaft. Zum Beispiel wenn ich auf Facebook mit meinen alten Kommilitonen spreche und sie mir sagen, dass sie in diesem Jahr mit dem Master abschließen werden, oder dass der eine und andere bei diesem und jenem Unternehmen arbeitet. Oder dass unsere Bäckerei jetzt zu einem Lager der Armee geworden sei, und unser Fall noch immer offen sei, weshalb wir nie mehr einen Fuß in den Kongo setzen können.

Wir verließen also dieses Dorf mit dem gesparten Geld, welches uns der Mann gegeben hatte. Wir reisten nicht über Bordj, denn dort hatte es eine gut überwachte Grenze mit sehr vielen Militärs. Wir fuhren mit einem Pickup einen großen Bogen und kamen in eine kleine Stadt, an deren Name ich mich nicht mehr erinnere, von wo aus wir nach Tamanrasset gelangten. Wir waren wieder in einem Netzwerk. In Tamanrasset gaben sie uns allen einen Ressemblance-Pass und wir fuhren mit einem Bus bis nach Maghnia. Dort wurden wir an der Taxihaltestelle von algerischen Soldaten festgenommen. Wir waren etwa dreißig Leute. Sie fragten uns: Woher kommt ihr und wohin geht ihr? Und wir sagten: Wir kommen aus Mali und gehen nach Marokko. Also luden sie uns in ihr Auto und fuhren uns an die Grenze zu Marokko. Sie haben uns quasi abgeschoben. Aber wegen dem Krieg in Mali schickten sie uns nicht in die Wüste.

Sie brachten uns an einen Stacheldrahtzaun mit vielen Löchern und Lücken. Dort schickten sie uns auf die andere Seite und sagten: Voilà, c'est ça le Maroc. Wir gingen etwa einen Kilometer zu Fuß und trafen auf marokkanische Soldaten. Diese umkreisten uns und begleiteten uns zurück zum Zaun. Also blieben wir dort, bis etwa um elf Uhr in der Nacht. Dann gingen wir wieder los und liefen eine weite Strecke zu Fuß, bis wir zur Universität von Oujda kamen. Dort gibt es viele Zelte der Subsaharier und jedes Land hat seine Botschaft. Wir wurden von den kongolesischen Brüdern aufgenommen. Wir gaben ihnen Geld und am Tag darauf gingen sie für uns Fahrkarten kaufen und wir nahmen den Zug nach Rabat. Das war vor acht Monaten. In Rabat brachte man uns zu Caritas, welche uns geholfen hat. Sie bezahlten uns vier Monate lang eine Wohnung. Aber jetzt bezahlen sie nicht mehr und wir wissen nicht, wo wir das Geld hernehmen sollten. Tagsüber geht meine Tante betteln. Das erlaubt uns zu überleben. So leben wir. Unsere Hoffnung ist davongeflogen. Wir leben von einem Tag zum nächsten. Wir wissen nicht, wie wir aus dieser Situation rauskommen.


-------

(1) Die Kimbanguistenkirche ist eine unabhängige christliche Kirche, die von Anhängern des kogolesischen Geistlichen Simon Kimgangu gegründet wurde, den sie als Propheten betrachten.

(2) Kokain kommt immer häufiger durch die Sahara nach Europa. Die Droge wird entweder von Südamerika nach Guinea verschifft, da der Hafen von Conakry als einer der korruptesten Häfen der Welt gilt, oder per Flugzeug direkt in die malische Wüste geflogen. Anschliessend wird die Wahre nach Algerien, Libyen oder Ägypten transportiert und schliesslich über das Mittelmeer nach Europa geschmuggelt. (vgl. z.B. Rühl, Bettina: Auf der Piste von Drogen und Tod, TAZ, 27. 05. 2013 www.taz.de/!116931, 16.01.2014)

(3) Die MNLA (Nationale Bewegung für die Befreiung des Azawad) ist eine Rebellenorganisation der Tuareg, welche für die Unabhängigkeit des Azawad im Norden von Mali kämpft. Die MNLA nahm im März 2013 das Gebiet unter ihre Kontrolle und rief die Unabhängigkeit aus. Gleichzeitig kämpften jedoch auch die islamistischen Gruppen Ansar Dine und Al-Quaida im Maghreb für die Einführung der Scharia. Sie vertrieben die MNLA-Kämpfer zwei Monate später aus den meisten eroberten Städten, da sich die säkulare MNLA weigerte, die Scharia anzuerkennen. Die Scharia steht in hartem Widerspruch zum Islam-Verständnis der Tuareg. So sind zum Beispiel die Frauen in der Tuareg-Gesellschaft den Männern traditionell gleichberechtigt.