24. November 2015

In Gedanken an Marcelle Hermine Ngidoule (1976-2015)




Sie werden sie in ein Tuch gewickelt und in die Erde gelegt haben. Ein Pastor wird den Segen gesprochen haben, auf dass sie in Frieden ruhen möge, in einer Welt, in der es keine Schmerzen gibt und kein Elend. Sie werden sich von ihr verabschiedet haben wie von so vielen schon vor ihr, und so vielen noch nach ihr. So viele, welche sie in der Wüste zurückgelassen hatten, welche das Meer verschluckte, welche die Schläge der Grenzwächter niederstreckten, welche das Gift der Vergewaltigungen dahinraffte. Sie werden ihre Seele Gott übergeben haben und ihren Körper der Erde dieses fremden Landes, in dem sie alle gestrandet sind. Sie werden niemanden beschuldigt haben. Wo es doch nur Schuldige gibt.

Vermutlich am 15. April 2015 starb Marcelle Hermine Ngidjoule, die ich in dem Buch Am Fusse der Festung Jeanne nannte, in der Hoffnung, dass Sie eines Tages Wert darauf legen würde, dass über ihrer Geschichte nicht ihr bürgerlicher Name steht. Vermutlich einen Tag nachdem ich sie in Tanger wiedergetroffen hatte, kauernd auf dem staubigen Bordstein vor dem Krankenhaus Mohammed V, zitternd und abgemagert, mit gelb unterlaufenen Augen und spröde gewordener Haut. Vermutlich, denn ich erfuhr es erst eine Woche später und fand niemanden, der es mir genau sagen konnte. Ich zog die Schuhe aus und kniete nieder, legte den Kopf auf den feuchten Sand, bis die Zungen der auslaufenden Wellen meine Haare umspielten. Dann verlor sich mein Blick im Dunst. An diesem sehnsüchtig verwunschenen Ort, wo die leere Wüste mit schroffen Klippen auf den rauen Atlantik trifft. In mir stauten sich Wut und Trauer.

"Ich, Marcelle, wenn ich sterbe, dann bringt meinen Körper zurück nach Kamerun." Ich hörte diese Worte erst vor wenigen Tagen auf einer Aufnahme aus der Zeit, in der ich ihre Geschichte aufzeichnete. Sie sang damals ihr Lied "Bon Be Mo" für eine CD mit Wiegenliedern von Frauen aus subsahara Afrika, die in Marokko gestrandet sind*. Ein Lied, in dem ein sterbender Vater seine Töchter und Söhne zusammenruft, um sein Erbe zu teilen und ihnen seine letzten Wünsche zu nennen.

Ich werde nie Ihr Gesicht vergessen, wie sie mich dankbar, verwirrt und hoffend in Tanger wieder begrüsste. Wie sie später das Buch küsste, das ich ihr mitbrachte, in dem ihre Geschichte steht. Auf dass die Welt sich an sie erinnert. Marcelle Hermine Ngidjoule. Eine der stärksten Frauen, die ich je kennenlernte. Geflohen vor der Tyrannei ihres Schwiegervaters und der Aussichtslosigkeit einer Witwe in einem von korrupten Patriarchen regierten Land. Während sieben Jahren durch die Wüste gereist, die ihr kein Grauen vorenthielt. Und schliesslich in Marokko gestrandet, vor einer fast unüberwindbaren Grenze zu einer besseren Welt. Gezwungen zu betteln in einem bettelarmen Land, gezwungen nur dank Hilfsorganisationen zu überleben, die kaum helfen können, oder dank der Loyalität von Männern, auf die kein Verlass ist. Marcelle Hermine Ngidjoule, die sich nicht unterkriegen liess, die hoffte und kämpfte, die zwei Mal versuchte, mit einem kleinen Schlauchboot die Meeresenge nach Europa zu überwinden. Die ihr Recht zu leben einforderte, mit allen Mitteln, die sie hatte. Bis zu dem letzten Augenblick, in dem ich sie sah, als sie in das Taxi stieg, das sie in ein Krankenhaus brachte. Zuversichtlich und hoffend. Obwohl sie abgewiesen wurde. So oft schon abgewiesen wurde. Von so vielen Menschen schon allein gelassen wurde. Auch an dem letzten Tag, als ich sie nicht mehr erreichen konnte. Als all meine Anrufe ins leere klingelten und niemand die Kurznachrichten zu lesen schien, die ich ihr schickte, um zu fragen, wo sie ist, was ich tun könnte.

Niemand brachte ihren Körper nach Kamerun, wie sie es wollte, als sie erklärte, worum es in dem Lied geht, das sie singt. Und so blieb auch ihr letzter Wunsch unerfüllt. Ist auch das wohl einzige Lied, das sie der Welt überlassen hat, eine Anklage an diese Welt, die ihr keinen Platz zum Leben gab. Und gleichsam Zeugnis ihrer unglaublichen Kraft, ihres unzerstörbaren Willens, zu leben. 


*Die CD "Mèreceuses" gibt es zum Download auf amazon und itunes. Der Erlös aus dem Verkauf geht an die Sängerinnen.