Diesen Montag tritt einer der schmutzigsten Deals in der Geschichte der EU-Fluchtbekämpfung in Kraft. Geflohene Menschen sollen kollektiv in die Türkei abegschoben werden. Angela Merkel hat das Abkommen massgeblich vorangetrieben. Ein Höhepunkt der Paradoxie in dem zynischen Schauspiel an Europas Grenze.
Er soll "das Ende der Flüchtlingskrise in Europa" sein: Der Deal der EU mit der Regierung Erdogan, wonach ab dem 4. April 2016 Flüchtlinge kollektiv aus Griechenland in die Türkei zurückgeschoben werden können. Sogar UN-Generalsekretär Ban Ki Moon betrachtet ihn mit "tiefer Besorgnis". Vorangetrieben wurde das Abkommen ausgerechnet von der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel. Doch diese scheinbare Widersprüchlichkeit hat in der EU-Grenzpolitik System.
Mit der Öffnung der Balkanroute erreichten in den vergangenen 12 Monaten rund 1 Million der weltweit 60 Millionen vertriebenen Menschen auf der Suche nach Schutz und Sicherheit Zentraleuropa. Und sie lösten die Angst aus, dass damit nun der grosse Ausgleich kommt, der Rückschlag einer Globalisierung, die bisher nur die Reichen reicher machte und den Wohlstand in geografische Enklaven konzentrierte. Doch dieser Ausgleich ist nicht gekommen, und er dürfte auf sich warten lassen. Geschehen ist alleine das Unaufhaltbare: Dass Menschen, die von einem der brutalsten Kriege der Gegenwart heimgesucht werden, in deren Nachbarländer fliehen. Der östlichste Zipfel der Europäischen Union ist schliesslich lediglich 100 Kilometer von der syrischen Mittelmeerküste entfernt.
Was geschehen ist, hätte auch kein Zaun und keine NATO-Flotte verhindern können, keine AFD, keine SVP und keine FPÖ. Es war die Flucht von tausenden Menschen über innereuropäische Grenzen - Frauen, Kinder und Männer, Familien und Einzelpersonen, Kranke, Behinderte und Alte. Menschen, die vor einem Krieg geflohen sind, der auch mit europäischen Waffen geführt wird, und an dessen Ursprung sich viele Länder Europas massgeblich beteiligten. Die Menschen, welche über die Balkanroute nach Mitteleuropa flohen, waren bereits in Griechenland, welches sich unmöglich alleine um sie hätte kümmern können. Das Dublin-Abkommen war nicht mehr umsetzbar. Die Entscheidung der deutschen Bundeskanzlerin, das Abkommen für Menschen aus Syrien auszusetzen, war angesichts dessen ein strategisch geschickter Schritt nach vorne. Deutschland sicherte sich damit den Spitzenplatz im Machtkampf der EU-Staaten - und die Legitimation dafür, seine Interessen nun wieder ohne Rücksicht auf Menschenrechte durchzusetzen.
Dennoch hält sich hartnäckig der Glaube, letztes Jahr habe jemand die Grenze geöffnet. Dabei wurden 2015 in Europa so viele Zäune gebaut, wie noch nie zuvor in der Geschichte. Dabei wurden die Asylgesetze durchgehend verschärft. Dabei wurde Afghanistan als sicheres Herkunftsland eingestuft und die Türkei sowie Marokko als sichere Drittstaaten bezeichnet, in welche Asylsuchende bedenkenlos abgeschoben werden können. Dabei ertranken 2015 so viele Menschen wie noch nie im Mittelmeer (mindestens 3.770 Menschen, darunter immer mehr Kinder). Und im griechischen Grenzort Idomeni sitzen 14.000 Flüchtlinge unter miserablen Zuständen an der mittlerweile komplett abgeriegelten Grenze zu Mazedonien fest.
Doch ausgerechnet die deutsche Bundeskanzlerin, welche die Abschottung Europas in rasantem Tempo vorangetrieben hat, gilt öffentlich als Idol europäischer Humanität, als Flüchtlingsmutter. Die Paradoxie ist soweit fortgeschritten, dass selbst der Chef der EU-Grenzschutzagentur Frontex die Mitgliedstaaten an ihre Pflicht erinnert, fliehenden Menschen zu helfen: "In Syrien herrscht noch immer ein Bürgerkrieg, in dessen Folge rund die Hälfte der Bevölkerung das Land verlassen hat. […] Je ferner der Frieden rückt, desto verzweifelter werden diese Leute. Diese Menschen verschwinden nicht. Und Europa hat weiterhin die Pflicht, ihnen Schutz zu gewähren", sagte Fabrice Leggeri vergangenen Donnerstag in einem Interview. Ausgerechnet der Chef jener EU-Agentur, welche ihre Grenzschutzroboter Talos nennt und welche mit illegalen Praktiken fliehende Menschen in den Tod schickte, indem sie deren Boote auf offenem Ozean zur Umkehr zwang.
"Zäune können Menschen auf Dauer nicht stoppen. Sie sind keine Lösung", sagt der Frontex-Chef. Doch darf diese Aussage nicht als Gesinnungswandel von Frontex missverstanden werden: Ihr Budget wurde in den vergangenen zwei Jahren rund verdreifacht, ihre Befugnisse massiv ausgebaut, und ihr Auftrag ist es nach wie vor, mit allen Mitteln zu verhindern, dass fliehende Menschen ohne Erlaubnis nach Europa gelangen. Eher dürfte sich die Aussage damit erklären, dass sich die EU-Agentur so nahe wie noch nie an der Umsetzung einer viel effektiveren Massnahme gegen flüchtende Menschen sieht: Nicht Zäune sollen sie aufhalten, sondern die Regierungen von Drittstaaten, für die Menschenrecht ein Fremdwort ist. Die Strategie, welche in Marokko und Libyen Schule machte, erreicht mit dem Deal zwischen der EU und der Türkei ihren bisherigen Höhepunkt.
Die Türkei reagierte darauf mit der Schliessung der Grenze zu Syrien. Flüchtlinge werden willkührlich inhaftiert und sogar direkt in das Bürgerkriegsland abgeschoben, während die Grenze mit Zäunen, Wachtürmen und Drohnen massiv ausgebaut wird. Laut Beobachtern wurden in den letzten vier Monaten minderstens 16 Menschen, darunter drei Kinder, von türkischen Beamten an der Grenze zu Syrien auf der Flucht erschossen. Der Deal ist umso problematischer angesichts der aktuellen Menschenrechtslage in der Türkei. Präsident Recep Tayyip Erdoğan unterliess in den vergangenen Jahren nichts, um seine Macht zur Tolaität auszubauen. Die Pressefreiheit wurde massiv eingeschränkt, der Krieg gegen die kurdische Unabhängigkeitsbewegung mit aller Brutalität wiederaufgenommen. Und aussgerechnet die Regierung Erdogan, welche mit ihrer ungebrochenen Unterstützung islamistischer Rebellengruppen in Syrien massiv zu dem Bürgerkrieg beiträgt, ist nun zum wichtigsten Partner der EU in der Bewältigung der "Flüchtlingskriese" geworden.
Sechs Milliarden Euro soll die Türkei erhalten, um im Gegenzug syrische Flüchtlinge zurückzunehmen; die Visa-Pflicht für türkische Staatsbürgerinnen und Staatsbürger dürfte noch diesen Sommer aufgehoben werden - eine Massnahme, die allerdings rechtspopulistischen Bewegungen in Deutschland geradezu Rückenwind gibt - und die von Berlin seit Jahren favorisierte Aufnahme der Türkei in die EU liegt auf einmal wieder ganz oben auf dem Verhandlungstisch. Zwar verspricht die EU ein Resettlement-Programm für syrische Flüchtlinge aus der Türkei, wonach für jeden abgeschobenen Flüchtling eine Person aus einem türkischen Flüchtlingslager in die EU überführt werden soll. Allerdings wurde dafür eine Obergrenze von 72.000 Personen festgelegt, bereits beschlossene Kontingente mitberücksichtigt, während gegenwärtig 2.500.000 syrische Flüchtlinge in der Türkei festsitzen.
Unterstützt von NATO-Kriegsschiffen soll die griechische und türkische Küstenwache künftig jedes Boot in der Ägäis aufspüren und Flüchtlinge in die Türkei abschieben. Sogar namhafte Hilfsorganisationen wie das UNO-Hochkommissariat für Flüchtlinge (UNHCR) und Ärzte ohne Grenzen (MSF) verurteilten das Abkommen vehement und zogen sich aus Protest aus den Flüchtlingslagern auf Lesbos zurück. “Wir weigern uns, Teil eines Systems zu sein, das keine Rücksicht auf humanitäre Bedürfnisse nimmt”, sagte Marie Elisabeth Ingres, Landeskoordinatorin von MSF in Griechenland.
Nachdem sich die engagierte Zivilbevölkerung insbesondere in Deutschland im vergangenen Jahr zu oft nur über rassistische Meinungssmacher empörte und die etablierte Politik auf ihrer Seite glaubte, ist es dringend an der Zeit, zu realisieren, welch zynisches Schauspiel an Europas Grenzen gespielt wird. Es ist wieder an der Zeit, sich zu empören. Denn nach der Solidaritätswelle von 2015 hat sich Europas Grenzpolitik im Eiltempo zu einer noch rücksichtsloseren Grenzdiktatur gemausert.
Er soll "das Ende der Flüchtlingskrise in Europa" sein: Der Deal der EU mit der Regierung Erdogan, wonach ab dem 4. April 2016 Flüchtlinge kollektiv aus Griechenland in die Türkei zurückgeschoben werden können. Sogar UN-Generalsekretär Ban Ki Moon betrachtet ihn mit "tiefer Besorgnis". Vorangetrieben wurde das Abkommen ausgerechnet von der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel. Doch diese scheinbare Widersprüchlichkeit hat in der EU-Grenzpolitik System.
Bekritzeltes Stop-Schild in Casablanca, Marokko |
Mit der Öffnung der Balkanroute erreichten in den vergangenen 12 Monaten rund 1 Million der weltweit 60 Millionen vertriebenen Menschen auf der Suche nach Schutz und Sicherheit Zentraleuropa. Und sie lösten die Angst aus, dass damit nun der grosse Ausgleich kommt, der Rückschlag einer Globalisierung, die bisher nur die Reichen reicher machte und den Wohlstand in geografische Enklaven konzentrierte. Doch dieser Ausgleich ist nicht gekommen, und er dürfte auf sich warten lassen. Geschehen ist alleine das Unaufhaltbare: Dass Menschen, die von einem der brutalsten Kriege der Gegenwart heimgesucht werden, in deren Nachbarländer fliehen. Der östlichste Zipfel der Europäischen Union ist schliesslich lediglich 100 Kilometer von der syrischen Mittelmeerküste entfernt.
Was geschehen ist, hätte auch kein Zaun und keine NATO-Flotte verhindern können, keine AFD, keine SVP und keine FPÖ. Es war die Flucht von tausenden Menschen über innereuropäische Grenzen - Frauen, Kinder und Männer, Familien und Einzelpersonen, Kranke, Behinderte und Alte. Menschen, die vor einem Krieg geflohen sind, der auch mit europäischen Waffen geführt wird, und an dessen Ursprung sich viele Länder Europas massgeblich beteiligten. Die Menschen, welche über die Balkanroute nach Mitteleuropa flohen, waren bereits in Griechenland, welches sich unmöglich alleine um sie hätte kümmern können. Das Dublin-Abkommen war nicht mehr umsetzbar. Die Entscheidung der deutschen Bundeskanzlerin, das Abkommen für Menschen aus Syrien auszusetzen, war angesichts dessen ein strategisch geschickter Schritt nach vorne. Deutschland sicherte sich damit den Spitzenplatz im Machtkampf der EU-Staaten - und die Legitimation dafür, seine Interessen nun wieder ohne Rücksicht auf Menschenrechte durchzusetzen.
Dennoch hält sich hartnäckig der Glaube, letztes Jahr habe jemand die Grenze geöffnet. Dabei wurden 2015 in Europa so viele Zäune gebaut, wie noch nie zuvor in der Geschichte. Dabei wurden die Asylgesetze durchgehend verschärft. Dabei wurde Afghanistan als sicheres Herkunftsland eingestuft und die Türkei sowie Marokko als sichere Drittstaaten bezeichnet, in welche Asylsuchende bedenkenlos abgeschoben werden können. Dabei ertranken 2015 so viele Menschen wie noch nie im Mittelmeer (mindestens 3.770 Menschen, darunter immer mehr Kinder). Und im griechischen Grenzort Idomeni sitzen 14.000 Flüchtlinge unter miserablen Zuständen an der mittlerweile komplett abgeriegelten Grenze zu Mazedonien fest.
Doch ausgerechnet die deutsche Bundeskanzlerin, welche die Abschottung Europas in rasantem Tempo vorangetrieben hat, gilt öffentlich als Idol europäischer Humanität, als Flüchtlingsmutter. Die Paradoxie ist soweit fortgeschritten, dass selbst der Chef der EU-Grenzschutzagentur Frontex die Mitgliedstaaten an ihre Pflicht erinnert, fliehenden Menschen zu helfen: "In Syrien herrscht noch immer ein Bürgerkrieg, in dessen Folge rund die Hälfte der Bevölkerung das Land verlassen hat. […] Je ferner der Frieden rückt, desto verzweifelter werden diese Leute. Diese Menschen verschwinden nicht. Und Europa hat weiterhin die Pflicht, ihnen Schutz zu gewähren", sagte Fabrice Leggeri vergangenen Donnerstag in einem Interview. Ausgerechnet der Chef jener EU-Agentur, welche ihre Grenzschutzroboter Talos nennt und welche mit illegalen Praktiken fliehende Menschen in den Tod schickte, indem sie deren Boote auf offenem Ozean zur Umkehr zwang.
"Zäune können Menschen auf Dauer nicht stoppen. Sie sind keine Lösung", sagt der Frontex-Chef. Doch darf diese Aussage nicht als Gesinnungswandel von Frontex missverstanden werden: Ihr Budget wurde in den vergangenen zwei Jahren rund verdreifacht, ihre Befugnisse massiv ausgebaut, und ihr Auftrag ist es nach wie vor, mit allen Mitteln zu verhindern, dass fliehende Menschen ohne Erlaubnis nach Europa gelangen. Eher dürfte sich die Aussage damit erklären, dass sich die EU-Agentur so nahe wie noch nie an der Umsetzung einer viel effektiveren Massnahme gegen flüchtende Menschen sieht: Nicht Zäune sollen sie aufhalten, sondern die Regierungen von Drittstaaten, für die Menschenrecht ein Fremdwort ist. Die Strategie, welche in Marokko und Libyen Schule machte, erreicht mit dem Deal zwischen der EU und der Türkei ihren bisherigen Höhepunkt.
Die Türkei reagierte darauf mit der Schliessung der Grenze zu Syrien. Flüchtlinge werden willkührlich inhaftiert und sogar direkt in das Bürgerkriegsland abgeschoben, während die Grenze mit Zäunen, Wachtürmen und Drohnen massiv ausgebaut wird. Laut Beobachtern wurden in den letzten vier Monaten minderstens 16 Menschen, darunter drei Kinder, von türkischen Beamten an der Grenze zu Syrien auf der Flucht erschossen. Der Deal ist umso problematischer angesichts der aktuellen Menschenrechtslage in der Türkei. Präsident Recep Tayyip Erdoğan unterliess in den vergangenen Jahren nichts, um seine Macht zur Tolaität auszubauen. Die Pressefreiheit wurde massiv eingeschränkt, der Krieg gegen die kurdische Unabhängigkeitsbewegung mit aller Brutalität wiederaufgenommen. Und aussgerechnet die Regierung Erdogan, welche mit ihrer ungebrochenen Unterstützung islamistischer Rebellengruppen in Syrien massiv zu dem Bürgerkrieg beiträgt, ist nun zum wichtigsten Partner der EU in der Bewältigung der "Flüchtlingskriese" geworden.
Sechs Milliarden Euro soll die Türkei erhalten, um im Gegenzug syrische Flüchtlinge zurückzunehmen; die Visa-Pflicht für türkische Staatsbürgerinnen und Staatsbürger dürfte noch diesen Sommer aufgehoben werden - eine Massnahme, die allerdings rechtspopulistischen Bewegungen in Deutschland geradezu Rückenwind gibt - und die von Berlin seit Jahren favorisierte Aufnahme der Türkei in die EU liegt auf einmal wieder ganz oben auf dem Verhandlungstisch. Zwar verspricht die EU ein Resettlement-Programm für syrische Flüchtlinge aus der Türkei, wonach für jeden abgeschobenen Flüchtling eine Person aus einem türkischen Flüchtlingslager in die EU überführt werden soll. Allerdings wurde dafür eine Obergrenze von 72.000 Personen festgelegt, bereits beschlossene Kontingente mitberücksichtigt, während gegenwärtig 2.500.000 syrische Flüchtlinge in der Türkei festsitzen.
Unterstützt von NATO-Kriegsschiffen soll die griechische und türkische Küstenwache künftig jedes Boot in der Ägäis aufspüren und Flüchtlinge in die Türkei abschieben. Sogar namhafte Hilfsorganisationen wie das UNO-Hochkommissariat für Flüchtlinge (UNHCR) und Ärzte ohne Grenzen (MSF) verurteilten das Abkommen vehement und zogen sich aus Protest aus den Flüchtlingslagern auf Lesbos zurück. “Wir weigern uns, Teil eines Systems zu sein, das keine Rücksicht auf humanitäre Bedürfnisse nimmt”, sagte Marie Elisabeth Ingres, Landeskoordinatorin von MSF in Griechenland.
Nachdem sich die engagierte Zivilbevölkerung insbesondere in Deutschland im vergangenen Jahr zu oft nur über rassistische Meinungssmacher empörte und die etablierte Politik auf ihrer Seite glaubte, ist es dringend an der Zeit, zu realisieren, welch zynisches Schauspiel an Europas Grenzen gespielt wird. Es ist wieder an der Zeit, sich zu empören. Denn nach der Solidaritätswelle von 2015 hat sich Europas Grenzpolitik im Eiltempo zu einer noch rücksichtsloseren Grenzdiktatur gemausert.